Kippt der Widerrufs-Joker? Retten die Banken zig Milliarden?
Ein Formfehler erlaubt es unzähligen Kreditnehmern ihre Immobilienfinanzierungen zu widerrufen. Speziell die Verträge ab November 2002 bis Mitte 2010 waren davon betroffen. Dem soll nun ein Riegel vorgeschoben werden. Am 14.10.2015 kommt die Sache zur Anhörung. Aller Voraussicht nach wird das neue Gesetz dann zum 21. März 2016 in Kraft treten.
Wir haben uns umgehört und mit dem Bundesfinanzministerium (BMF), dem Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV), mit der Deutschen Bundesbank sowie mit dem Verbraucherschutz Sachsen gesprochen.
Daher der Name „Widerrufsjoker“
Hintergrund war eine fehlerhafte oder ungenügende Widerrufsbelehrung. Laut Gesetz BGB §355 und BGB § 495 kann jeder Kreditvertrag innerhalb von zwei Wochen nach Unterzeichnung widerrufen werden. Das gilt nicht nur für online abgeschlossene Kreditverträge, sondern auch für die vor Ort vereinbarten Finanzierungen.
Über dieses Recht müssen und mussten die Banken ihre Kunden aufklären. Ist nun diese Pflicht nicht vollständig erfüllt worden, war der Kunde nicht gut genug informiert. Daher, so der BGH in einem Grundsatzurteil (siehe unser Ratgeber zum Widerruf von Kreditverträgen), fing die Widerrufsfrist nie an zu laufen.
Aufgrund dieses Formfehlers lassen sich also die Kreditverträge widerrufen mit hervorragenden Folgen für den oder die Kreditnehmer. Es bietet sich so eine elegante Gelegenheit, alte und hochverzinste Baufinanzierungen loszuwerden, rückabzuwickeln und durch neue, niedrig verzinste Kreditverträge zu ersetzen.
Hintergrund zum voraussichtlichen Tod des Widerrufjokers
Die EU hat im Februar 2014 eine Richtlinie über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher (Richtlinie 2014/17/EU) erlassen. Artikel 42 dieser Richtlinie definiert die Umsetzung in jeweils nationales Recht bis zum 21. März 2016.
Nach endlosen Begründungen und Begriffsdefinitionen sowie Regelungen der Zuständigkeiten geht es ab Seite 19 um die Sache an sich: Es werden Regelungen zur Vergabe von Verbraucherkreditverträgen festgelegt. Das inkludiert eine Fülle von Aspekten, von der Ausbildung der Mitarbeiter des Kreditgebers bis hin zu einheitlichen Standards in der Werbung oder sog. Kopplungsgeschäften.
ABER: Es findet sich keine Regelung zum Widerrufsrecht, bzw. zu den Widerrufs-Klauseln in den Kreditverträgen, um die es beim Widerrufsjoker geht. Das irritiert schon ein wenig.
Der Gesetzesvorschlag, über den am 14.10.2015 beraten wird wurde eingebracht von den Ministerien für Finanzen sowie für Justiz und Verbraucherschutz. Speziell letzteres Amt war es dann wohl, das federführend den Vorschlag ausgearbeitet und zur Vorlage gebracht hat.
Wir wollten natürlich wissen, wo denn der Grund für diese Initiative zu finden sei. Immerhin sei das Ministerium ja den Verbrauchern verpflichtet, die durch den Widerrufsjoker in der deutlich besseren Position stünden.
Das moralisch/ethische Dilemma beim Widerruf von Kreditverträgen
Direkt konnte diese Frage nicht beantwortet werden, man wollte sich aber nochmals intern umhören. Gleichzeit argumentierte das Ministerium, dass es nicht im Sinne des Gesetzes sei, dass eine Vertragspartei ohne Angabe von Gründen einen mitunter über Jahrzehnte hinweg geschlossenen Vertrag aufkündigen könne.
Dieser Argumentation kann man sich bei einer ehrlichen Betrachtung nicht verschließen, sicher. Wir wiesen darauf bereits in unserem Ratgeber hin. Schließlich – Regelung zum Widerruf hin oder her – man hatte sich auf eine Finanzierung über eine gewisse Summe, zu einem gewissen Zinssatz und über eine gewisse Zeit hinweg geeinigt. Hand drauf, Unterschrift drunter, Haken dran.
Jahre später anzukommen und zu sagen, der Passus zum Widerrufsrecht sei nicht verstanden worden und daher sei alles andere schlicht und ergreifend auch nichtig, ist am Ende des Tages ein Abstellen auf einen Formfehler zum Vorteil des Verbrauchers, der in einer Niedrigzinsphase enorm lukrativ umschulden kann.
Natürlich ist es gleichzeitig richtig, dass die Banken, die es betrifft, selbst Schuld haben. 2002 hat der Gesetzgeber u.a. auch die Widerrufsbelehrung vorformuliert und veröffentlicht. Hätten die Banken einfach nur genommen, was vorgegeben wurde, so wäre alles in trockenen Tüchern und wasserdicht gewesen.
Stattdessen aber haben unzählige Kreditgeber zehntausende Kreditverträge mit verklausulierten Widerrufsbelehrungen ausgegeben. Warum das, fragt man sich? Ging es darum, mit Absicht ein Verbraucherrecht derart unkenntlich zu machen, dass der Kunde tatsächlich nur mit Mühe wusste, was er da unterschrieb?
In Einzelfällen waren die Belehrungen in den Kreditverträgen so schlimm durch die Mühlen des Juristen-Deutsch gewalkt, dass selbst Experten keinen Schimmer mehr hatten, was eigentlich gemeint war, wann welche Frist anfing und wie sich ein Kunde zur Wahrung seines Rechts gegebenenfalls zu verhalten hatte.
So gesehen also: Recht so, trifft keinen falschen. Und dennoch, hasenrein ist die Sache nicht. So oder so.
Woher kommt der Vorstoß zur Gesetzesinitiative?
Unser durchaus hilfsbereiter Kontakt beim BMJV konnte das leider nicht direkt beantworten, was mehr als nur glaubhaft erscheint. Was könnte also passiert sein? Es ist eher schwer zu glauben, dass das BMJV völlig ohne externe Aktivierungsenergie in diesem Detailbereich tätig wird.
Erst recht nicht, da ein höchst richterliches Urteil vom BGH die Sachlage klargestellt hat. Der Kreditnehmer hat einen Anspruch aus einer fehlerhaften Widerrufsbelehrung. Die Lage war klar: Wird eine Formulierung für unzureichend bewertet, kann der Bankkunde erfolgreich widerrufen.
Die ursprüngliche Aufgabe des Ministeriums war, die EU Vorgabe rechtzeitig in nationales Recht zu gießen. Doch Fakt ist, dass es jetzt um mehr geht. Der EU Richtlinie wurde ein Rucksack mitaufgesetzt, der die aktuelle Regelung (und das heißt in diesem Fall sogar Rechtsprechung) per Gesetz ändert.
Cui bono, wer profitiert davon?
Die Frage erübrigt sich. Natürlich sind es die Banken und Sparkassen. Aber um wieviel geht es eigentlich? Wie stark ist der Leidensdruck bei den Kreditgebern?
Wir haben gelesen, dass – je nach Quelle – zwischen 50 und 80 Prozent der Kreditverträge von Ende 2002 bis Mitte 2010 zur Disposition stehen und potentiell angreifbar sind. Was bedeutet das also in Zahlen?
Neugeschäft bei Wohnungsbaukrediten für private Haushalte | |||||
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Alle Beträge in Millionen Euro | |||||
Zinsbindung | |||||
Abschlussjahr | über 10 Jahre | 5 bis10 Jahre | 1 bis 5 Jahre | bis 1 Jahr | Gesamtvolumen |
2003 | 40.537 € | 72.243 € | 35.547 € | 27.332 € | 175.659 € |
2004 | 35.139 € | 57.753 € | 33.416 € | 29.061 € | 155.369 € |
2005 | 48.326 € | 66.347 € | 29.144 € | 27.915 € | 171.732 € |
2006 | 57.032 € | 73.334 € | 28.734 € | 29.055 € | 188.155 € |
2007 | 57.870 € | 69.254 € | 27.308 € | 27.342 € | 181.774 € |
2008 | 52.554 € | 67.612 € | 29.604 € | 26.626 € | 176.396 € |
2009 | 47.887 € | 77.773 € | 36.453 € | 33.089 € | 195.202 € |
2010 | 23.722 € | 69.363 € | 31.111 € | 31.294 € | 178.870 € |
Gesamt | 363.067 € | 553.679 € | 251.317 € | 231.714 € | 1.423.157 € |
Fehlerquote | 75% | 75% | 75% | 75% | 75% |
Gefährdete Kreditevolumen | 272.300 € | 415.259 € | 188.488 € | 173.786 € | 1.067.368 € |
(Quelle: Bundesbank, eigene Berechnungen)
Was bedeuten diese Zahlen, wie interpretiert man diese Tabelle?
Die Zahlen, die wir in den Statistik-Tiefen der Bundesbank gefunden haben sind garantiert zuverlässig. Die weiteren Überlegungen sind allerdings mehr als Anschauungsobjekt zu verstehen. Wir haben uns auf die Erfahrungswerte der Verbraucherzentrale Sachsen gestützt, die angibt, dass 75 Prozent der von Ihnen geprüften Verträge (2.500 seit Anfang 2014) angreifbar seien.
Warum Anschauungsobjekt? Weil Neugeschäft auch bedeuten kann, dass ein Kredit bereits erfolgreich widerrufen wurde und der Ersatzkredit hier in der Aufstellung als Neugeschäft zu finden wäre. Dieser Kredit ist aber nicht mehr als potentiell gefährdet einzustufen, da er unter Garantie über eine wirksame Widerrufsklausel verfügt.
Leider verfügen weder die Ministerien, noch die Bankenverbände noch die Verbraucherzentralen über eine verlässliche Aufstellung darüber, wie viele Kredite bereits widerrufen wurden. Daher können wir auch nicht sagen, was für die Banken noch auf dem Spiel steht.
Abgesehen von diesen Ungenauigkeiten muss bei der Interpretation der Daten auch beachtet werden:
- Hoch verzinste Verträge mit langen Laufzeiten versprachen hohe Einnahmen.
- Kurzläufer aus Hochzinsphasen sind weniger interessant für die aktuelle Betrachtung
- Bei erfolgreichem Widerruf wird rückabgewickelt. D.h. es werden auch Verzugszinsen für eine Nutzungsentschädigung fällig.
- Der Aufwand einer Rückabwicklung ist kein Pappenstiel. Das kostet Zeit, Energie und damit auch Geld.
Fazit:
Es handelt sich am Ende nicht um die volle Billion Euro an potentiell gefährdeten Krediten, die unten links in der Tabelle zu finden ist. Tatsächlich dürfte der ernsthaft bedrohte Kreditbestand eher im unteren zweistelligen Milliardenbereich liegen. Aber das sollte Aktivierungsenergie und Leidensdruck genug sein, um die Bankvertreter hinreichend in Lobby-Arbeit investieren zu lassen.
Der letzte Stand ist der – und da sind sich die Gesprächspartner von Verbänden, Ministerien, Bundesbank und Verbraucherzentrale einige – Der vorgelegte Gesetzesentwurf wird seinen Weg machen und pünktlich im März 2016 greifen.
Bis dahin sollte wirklich jeder seine Möglichkeiten prüfen und die Kreditunterlagen bei Fachanwälten oder Verbraucherzentralen vorlegen. Die Beratungen sind häufig kostenfrei und die versteckten Potentiale gehen gerne mal problemlos in den deutlichen fünfstelligen Bereich.
Wir lernen daraus: Kannst du in offener Schlacht in Karlsruhe nicht gewinnen, versuch es verdeckt irgendwo unter den Linden.